Der Bewegungsbedarf des Pferdes - wie sieht es bei ihrem Pferd aus?
Als erstes machen wir einen kleinen Exkurs: Betrachtet man wildlebende Pferdeherden, wie zum Beispiel in der Camargue, kann man folgende Beobachtungen machen:
Grundsätzlich unterscheidet man bei der Beobachtung von Pferden im Freiland zwischen der reinen Lokomotion, und der langsamen Bewegung während des Grasens. Ein weidendes Pferd verbringt täglich etwas 16 Stunden mit Grasen und der damit verbundenen Schrittbewegung und legt damit 6-11 km Strecke zurück, und Notzeiten oder bei Wassermangel auch mehr. Die reine Bewegung, wie zum Beispiel beim Spiel, ist abhängig von der Zusammensetzung der Gruppe, dem Alter und auch der Witterung und beträgt 3-15 Prozent des Tages.
Wendet man sich nun von den wildlebenden Pferden zu den Pferden in den hiesigen Pensionsställen, zeigen sich ganz unterschiedliche Bilder. Durch meine Tätigkeit als mobiler Reitlehrer komme ich in viele unterschiedliche Stallungstypen, vom klassischen Boxenstall, zur Paddockboxenunterbringung bis hin zur Offenstallhaltung. Glücklicherweise hat die Weidemöglichkeit während der Weidesaison in die meisten Ställe Einzug gehalten. Nun besteht die Möglichkeit, die Pferde auf die Weide zu lassen und ihnen die Schrittbewegung beim Grasen zu ermöglichen. Es gibt nichts natürlicheres, entspannenderes für die Pferdeseele, als in einem passenden stabilen Gruppengefüge auf der Weide zu grasen.
Leider ist diese Zeit meist zu kurz: Die Weide gibt nicht genug Gras her, das Pferd darf für das Training nicht "erschöpft" von der Weide sein, oder es besteht eine Stoffwechselstörung die eine größere Grasaufnahme verbietet.
Die einen Exemplare gehen zurück in den Offenstall, und haben dort die Möglichkeit mit Freunden Sozialkontakte zu pflegen oder zwischen verschiedenen Futterplätzen zu pendeln. Zwar fehlt die Schrittbewegung mit gesenktem Kopf, doch bleibt ein kleines Maß an Bewegung erhalten, und eine weitere Futteraufnahme ist für den Dauerfresser Pferd gewährleistet.
Andere Pferde gehen nach dem Weidegang in ihre (Paddock)box zurück. Dort ist dann die Bewegung maßgeblich eingeschränkt. Selbst bei der Paddockbox hält sich die Bewegung in Grenzen, denn was gibt dort den Anreiz zur Bewegung? Die Fütterung erfolgt an einem Platz, es erfolgt ein Wechsel zwischen Tränkmöglichkeit und Futterplatz, bei der Paddockbox noch einem Gang nach draußen. Doch was findet für eine Bewegung statt? Wohl kaum eine Bewegung in Fresshaltung und vorwärts. Selbst wenn es in seinem Paddock einige Schritte nach vorne machen kann, so stößt es schnell an seine (Paddock)grenzen. Es folgt eine Drehbewegung, bei der Scherkräfte auf die Pferdebeine einwirken - und das unzählige Male am Tag! Von artgerechter Bewegung kann man wohl kaum noch sprechen ... die Pferde stehen und drehen sich die Beine kaputt.
Während im Sommer vielerorts noch die Möglichkeit für Weidegang gegeben ist, sieht es im Winter doch nochmal ganz anders aus - kaum ein Stall verfügt über eine Winterweide mit entsprechendem Bewuchs, der ein grasen ermöglicht. Paddockgang sollte immer gewährleistet sein, doch wie sieht dieser aus? Ist der Boden trocken und griffig, besteht eine Unterstellmöglichkeit für alle Herdenmitglieder und ausreichend Wasser- und Futterplätze? Bietet der Paddock ausreichend Platz und auch Anreiz zum Bewegen und Toben?
Oder ähnelt der Paddock eher einer Kraterlandschaft, wo ein Pferd wenn es doch mal loslaufen möchte, unweigerlich direkt vor dem nächsten Zaun schliddernd wieder zum Halten kommt? Bietet der Paddock überhaupt die Möglichkeit loszulaufen, oder ähnelt er eher einer "Box ohne Dach"?
Wenn wir nun zu den Camarguepferden zurückschwenken, sollte uns das nachdenklich machen. Artgerechte Bewegung unserer Pferde, besonders im Winter? Betrachten wir doch mal kritisch die Haltung unserer eigenen Pferde - anscheinend ist artgerechte Bewegung in unseren Breiten wohl nur in seltenen Fällen möglich ...
Selbst in einer optimalen Offenstallhaltung mit langen Laufwegen
und netten Spielkameraden findet die Futteraufnahme von Heu, Heulage
und Futterstroh im Stehen statt. Im Idealfall an ausreichenden Fressplätzen,
die ein entspanntes Hin- und Herpendeln ermöglichen und so
ein Mindestmaß an Bewegung zu gewährleisten. Bei einer
Rauhfutteraufnahme in Fressständern beispielsweise, verringert
sich die Bewegungsmenge deutlich. Die Bewegung durch die Grasaufnahme
ist qualitativ nicht zu ersetzen.
Nun mag der ein oder andere einwenden, das er sein Pferd ja schließlich
auch reiten würde ...
Wie sieht das Reiten oder das Bewegen durch den Menschen
aus?
Häufig ist das Verhältnis schnelle Gangart zu Schritt
verschoben, es werden in kurzer Zeit lange Strecken zurückgelegt.
Im Freiland bewegt sich das Pferd circa 60 Prozent des Tages
im Schritt! Wer kann das durch das Reiten ersetzen? Wohl keiner.
Packt man sich an die eigene Nase, wird dem ein oder anderem vielleicht
gerade im Winter bewusst, wie oft sein Pferd im Winter "mal
einen Tag frei" hat, da es ja "draußen steht und
sich dort bewegen kann". Erinnern sie sich an das Thema artgerechte
Bewegung auf dem Paddock? Wie viel bewegt sich denn ihr Pferd tatsächlich
auf dem Paddock? Oder hat es wohlmöglich nur eine Paddockbox,
und damit einen belüfteten Balkon? Würden sie ihren Hund
nur in der Wohnung und auf dem Balkon halten?
Nun sagen sie vielleicht, dass Sie ihr Pferd im Winter täglich trainieren, sogar mit intensiver Arbeit? Machen sie das? Oder tun sie doch eher etwas weniger ... Provokativ formuliert, sehe ich häufig verschiedene Typen, nehmen wir mal zwei Extremfälle:
Den Reiter, der gerne nur Schritt reitet. Ist ja gemütlich, nicht so schnell und man hat auch nicht so schnell den Kontrollverlust - wobei dieser Schritt eher einem Trödeln, als einem Schreiten gleicht. Getrabt wird auch ein paar Runden, und an guten Tagen auch mal kurz galoppiert - dann hat man aber schon viel gemacht, und das Pferd könnte eventuell schwitzen ... was Übrigends nicht generell ein Anzeichen für Krankheit ist ;-)
Das andere Extrem arbeitet möglichst viel im Galopp und Trab, um das Defizit das in 24 Stunden entstanden ist, in 1 Stunde auszugleichen.
Wie auch immer - mit aktiver Bewegung, sprich Reiten, Fahren oder anderer Bewegung durch den Menschen, sind sie auf dem richtigen Wege den Bewegungsbedarf zu decken - natürlich zusätzlich zur freien Bewegung!
Reflektieren sie für sich selber, welche Auslaufmöglichkeiten ihr Pferd hat, und wie es diese nutzt. Optimieren sie die Bewegungsmöglichkeit durch passendes Training, auch hier mit kritischer Betrachtung der Arbeit in den verschiedenen Gangarten. Bedenken sie bitte, ihrem Pferd ausreichend Zeit zum aufwärmen zu geben, damit Muskeln, Bänder und Sehnen geschmeidig werden können - halten sie den Schrittanteil hoch, und achten sie auf ausreichendes lösen.
Lassen sie ihr Pferd nicht "Mal-eben-kurz-laufen", ständige Dreh-, Start- und Stoppbewegungen sind deutlich schädlicher als nutzbringend. Nehmen sie das "Laufen-lassen" bitte höchstens als Ergänzung nach ihrem alltäglichen Trainingsprogramm, aber sehen sie es bitte nicht als Ersatz - Schäden am Bewegungsapparat sind sonst vorprogrammiert.
Text: Reken Reitlehrerin Miriam Roeseler
Und denken sie immer mal an die Camarguepferde ...
Wir können unsere Pferde nicht wirklich 100 % artgerecht halten
und bewegen. Aber wir sind es ihnen schuldig, es maßgeblich
zu versuchen um ihnen ein schönes, langes und gesundes Leben
zu ermöglichen und sie an Körper und Seele gesund zu erhalten.
Miriam
Roeseler
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